Vielleicht hast du dich im Urlaub oder auf einer Webseite in einen jungen Hund verliebt. Dir hat es der schüchterne Hund besonders angetan: Du möchtest ihm ein schönes Zuhause geben und ihm zeigen, wie wunderbar das Leben an deiner Seite ist.
Doch kaum ist der Vierbeiner bei dir eingezogen, stehst du vor einem unerwarteten Problem: Dein Hund gerät bei jeder Kleinigkeit in Panik. Möglicherweise reagiert er sogar mit aggressivem Verhalten gegenüber anderen Menschen. Je älter (und größer) er wird, desto mehr wird dies zum Problem. Wenn du dieses Verhalten bei deinem Hund beobachtest, hast du vermutlich ein Tier mit Deprivationssyndrom (Hospitalismus) vor dir. Eine gezielte Therapie kann dir und deinem Hund helfen, mit diesem Problem umzugehen.
Hospitalismus ist eine entwicklungsbedingte Störung. Dabei handelt es sich um ein sogenanntes „Deprivationssyndrom“. Deprivation kommt von dem lateinischen Wort „deprivare“, was „berauben“ bedeutet. Vereinfacht gesagt, hat jemand deinem Hund seine Kindheit und die Chance zu einer guten Entwicklung geraubt.
Hundewelpen leiden unter Reizarmut, wenn sie in einer lieblosen Umgebung aufwachsen. Das kommt unter folgenden Haltungsbedingungen vor:
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Wenn Hundewelpen sich selbst überlassen bleiben, fehlt ihnen der Kontakt zu Menschen, Tieren und der Außenwelt. Dadurch mangelt es ihnen an Entwicklungsanreizen. Sie brauchen die Möglichkeit, in einem sicheren, liebevollen Rahmen positive Erfahrungen zu machen. Nur dann entwickelt sich das Gehirn der Welpen optimal und stellt wichtige neuronale Verbindungen her. Ohne diesen Input lernen Welpen nichts. Die jungen Hunde bauen kein Selbstbewusstsein auf. Die Welt bleibt ihnen fremd. Dementsprechend mangelt es ihnen im Erwachsenenalter an Kompetenzen, um mit neuen Situationen umzugehen.
Diese Defizite lassen sich bei erwachsenen Hunden nur schwer und mit viel Liebe und Geduld korrigieren. Die Lernphase, in der Welpen Neues aufsaugen wie ein Schwamm, Nervenzellen ausbilden und diese miteinander vernetzen, findet zwischen der dritten Lebenswoche und dem dritten Lebensmonat statt.
Ab der sechsten Lebenswoche fangen junge Hunde an, ihre Umgebung zu erkunden. In dieser Zeit ist das Kennenlernen von unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten (Teppich, Gras, Asphalt, Waldboden) und Geräuschen wichtig. Sie sollten die Möglichkeit bekommen, anderen Hunden und Katzen zu begegnen. Darum sorgen Qualitätszüchter dafür, dass ihre Schützlinge erfreuliche Erfahrungen mit ihren Wurfgeschwistern, mit Menschen und mit anderen Tieren wie Katzen machen. Sie zeigen ihnen Schritt für Schritt die Welt und vermitteln sie später als gesunde➹, selbstbewusste Vierbeiner. Dieses Glück haben viele Hunde, die aus dem Tierheim oder aus der Schwarzzucht stammen, nicht.
Wird all das versäumt, ist das Ergebnis ein überaus ängstlicher vielleicht sogar aggressiver Hund. Er fürchtet sich vor allem Neuen, weil er in seiner frühen Kindheit nichts gelernt und erlebt hat. Als erwachsener Hund kann er ebenfalls nichts lernen und erleben, weil seine Angst ihn daran hindert. Du kannst deinem Hund helfen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Aber das braucht Zeit, liebevolle Zuwendung und Geduld.
Die Symptome zeigen sich unterschiedlich. Möglicherweise gerät dein Hund in Panik, wenn er das Haus verlassen soll. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass er daran nicht gewöhnt ist. In dem Fall ist die Außenwelt für ihn bedrohlich, fremd und angsteinflößend. Diese unangenehmen Gefühle möchte er um jeden Preis vermeiden. Darum weigert er sich, in den Garten zu gehen und sträubt sich, wenn das Gassigehen ansteht. In den eigenen vier Wänden fühlt sich das Wasserlassen einfach sicherer für deinen Vierbeiner an. Dementsprechend uriniert er in die Wohnung.
Ist dein Hund chronisch-ängstlich oder leidet an Stereotypien wie ständigem Auf- und Abgehen, kann er aus der Überforderung heraus aggressiv reagieren. Neue Situationen bedeuten für ihn puren Stress. Möglicherweise wird er sogar zu einer Gefahr für andere Menschen. Oder er attackiert andere Tiere.
Das lässt sich schwer verallgemeinern. Jeder Hund reagiert auf seine eigene Weise. Wenn dein Alltag ohne große Überraschungen in geordneten Bahnen und nach einem festen Schema verläuft, mildern sich die Symptome mit der Zeit. Gewohnheiten geben deinem Hund Sicherheit. Durch feste Rituale und kannst du deinem Vierbeiner die Angst gezielt nehmen.
Ja, die gibt es. Eine medikamentöse Behandlung dauert im Regelfall sechs bis 18 Monate. Als Therapie bei Hunden mit Deprivationssyndrom wird auch die Pheromontherapie eingesetzt. Lass dich am besten von einem Tierarzt, der sich mit dieser Entwicklungsstörung auskennt, beraten.
Deinem Hund fehlt wie bei vielen Verhaltensstörungen das Urvertrauen. Er braucht eine ruhigen, sicheren Schlafplatz, regelmäßige Futterzeiten➹, Spiel- und Streicheleinheiten. Ideal wäre es, wenn es dir gelingt, das Leben für deinen Vierbeiner vorhersehbar zu machen. Er braucht vor allem feste Strukturen, Sicherheit und viel Bestätigung. Falls dein Hund zu Fluchtverhalten neigt, brauchst du ein ausbruchssicheres Geschirr. Zeigt er sich aggressiv gegenüber Artgenossen oder Menschen, kann ein Maulkorb nötig sein. In jedem Fall gilt: Dein Vierbeiner gehört an die Leine.
Wenn du dich mit der ganzen Situation überfordert fühlst, lasse dich von Fachleuten beraten. Eine Therapie bei einem auf Angsthunde spezialisierten Hundetrainer kann deinem Hund helfen, Vertrauen in seine Fähigkeiten zu erlangen. Dir wirst dabei unterstützt, eine vertrauensvolle Beziehung zu deinem Tier aufzubauen. Eine Möglichkeit dazu ist der therapeutische Parcours.
Das ist reines Konditionieren. Bei einem Hund mit Verhaltensstörungen wie dem Deprivationssyndrom reicht das nicht. Als Erstes muss sein Vertrauen aufgebaut werden. Ist dein Hund in Panik, hast du keinen Zugang zu ihm. Entweder er flüchtet und entzieht sich der Situation – oder er beißt zu. In angstfreien Situationen, in denen sich dein Vierbeiner sicher fühlt, kannst du mit Clickertraining sein Selbstbewusstsein stärken. Es ist auch eine gute Idee, deinem Hund in einem ruhigen Rahmen neue Erfahrungen zu ermöglichen. Dabei darfst du ihn allerdings nicht überfordern. Hier gilt: weniger ist mehr.
Es ist eine mutige Entscheidung, einen Hund beispielsweise aus dem Ausland aufzunehmen. Allerdings solltest du dir bewusst sein, dass Probleme auf dich zukommen können. Wenn dein Hund sich als Angsthund entpuppt oder aggressives Verhalten an den Tag legt, hol dir Rat und Hilfe➹ bei Verhaltenstherapeuten und Tierpsychologen. Spezialisten helfen dir dabei, mit dem Deprivationssyndrom umzugehen und deinem Hund ein schönes Leben an deiner Seite zu ermöglichen.
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